„Die erste Raketenstufe ist gezündet“

Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE sammelt Protestideen gegen Neonaziaufmarsch

Genau 82 Gäste sind am 05. November 2013 auf Einladung des Oberbürgermeisters Klemens Koschig zu einer Initiativberatung in den Saal des Dessauer Rathauses gekommen. Vom Juristen bis zur Sprecherin des Migrantanrates, vom Studenten bis zur Stadträtin und vom Vereinsvorsitzenden bis zur Pädagogin wurde intensiv eine Frage diskutiert: Wie kann die Doppelstadt zwischen Elbe und Mulde für Rechtsextremisten möglichst  unattraktiv gemacht werden? Der Anlass für diese richtige und notwendige Debatte wirft derweil seine braunen Schatten bereits voraus. Am 08. März 2014 wollen Neonazis erneut durch die Innenstadt marschieren und mit ihrer kruden Mischung aus Geschichtsverfälschung, Menschenfeindlichkeit und NS-Nostalgie die Opfer des Nationalsozialismus verhöhnen. Für das Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE Grund genug, kurz zurückzuschauen, aber vor allem mit möglichst vielen Menschen bereits jetzt Aktionen zu planen und für die kommende Protestsaison kreative Anregungen, Ideen und Wünsche einzusammeln.

„Am 09. März 2013 sind wir mit unserem Protest vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gerückt – und Spaß hat es auch noch gemacht.“, kommentiert Ralf Zaizek wacklige Filmbilder, die er selbst gedreht hat und die zu Beginn der Initiativberatung über die Leinwand flimmern. Es sind Impressionen von der Aktion EINE MENSCHENKETTE FÜR DESSAU-ROSSLAU (mehr dazu hier…). An diesem Ring um die Innenstadt und einem TOLERANZLAUF hatten sich 2.500 Menschen beteiligt und damit das geschafft, was in der Stadt lange Zeit als aussichtslos galt: eine mehrheits- und anschlussfähige Form zu finden, wie aufmarschierenden Nazis ein starkes Symbol entgegengesetzt werden kann. „Ein großartiges Zeichen das zeigt, wie bewegend Bewegung sein kann.“, sagt der Organisator des Toleranzlaufes, der zugleich Geschäftsführer der avendi Senioren Service GmbH ist.


An der Aktion TOLERANZLAUF beteiligten sich zahlreiche Originale, u. a. die schon berüchtigten Protest-Tetetubbies

Dietrich Bungeroth sieht das ähnlich: „Als sich die Menschenkette gegen 14.00 Uhr schloss, war der Erfolg perfekt.“ Der Pfarrer im (Un) Ruhestand ist nicht nur seit 2 Jahren im Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE aktiv, sondern ein Initiator der MENSCHENKETTE. Zusammen mit anderen Mitstreiter_innen war er unermüdlich unterwegs, hat im Vorfeld Klinken geputzt und Versammlungen organisiert und schließlich Mahnwachen und Treffpunkte koordiniert. Kein Wunder also, dass er einen ganz speziellen Blick auf die vergangene Protestsaison hat. Einerseits herrscht auch bei ihm immer noch eine positive Überraschung vor, gab es dich nicht wenige Nörgler und Pessimisten die sich sicher waren, dass der Ringschluss um das Stadtzentrum nie gelingen würde: „Die Aktion war so erfolgreich, weil wir so viele erreichen konnten, egal welcher Weltanschauung oder Religion, aus allen Generationen, von den Schülern bis zu den Senioren.“ Die Bürger und Bürgerinnen, ist sich Dietrich Bungeroth sicher, hätten damit Gesicht gezeigt und obendrein den aufrechten Gang geübt und damit Selbstbewusstsein gewonnen.  Und schließlich sei es gelungen, dass die Neonazis nicht durch das Stadtzentrum marschieren konnten. Ganz reflektiv spricht er andererseits auch Herausforderungen an: „Vor den Einkaufscentern standen viele Leute und haben sich nicht ansprechen lassen. Viele sahen an den Fenstern zu oder gingen einfach vorüber.“ Dietrich Bungeroth verwies zudem auf eine Kritik an Teilen des Polizeieinsatzes, die bereits kurz nach dem 09. März 2013 unüberhörbar war: „Motorräder und Pferdestaffel begleiten den Aufmarsch der Neonazis, das konnte aussehen wie eine Parade, auch wenn es so nicht gemeint war.“


2.500 Menschen gelang  mit einer MENSCHENKETTE  der Ringschluss um das Stadtzentrum

„Wir haben heute noch kein fertiges Konzept und laden Sie ein, mit uns gemeinsam tragbare Konzepte und Angebote zu entwickeln.“, leitet der Netzwerkaktivist schließlich den Ausblick auf den demokratischen Protest im kommenden Jahr ein. Passend dazu bauen sich auf der Leinwand Schlagworte und Fragen zugleich auf, die sich mit einzelnen Linien zu einem Ideennetz verbinden: Menschenkette? Wer fehlt noch? Was funktioniert? Strategie? Toleranzlauf? Buntes Bühnenprogramm? Was fehlt noch?

Die anschließende Diskussion im Wohnzimmer der Stadt, wie der Ratssaal auch diesmal von einigen genannt wird, ist dabei genauso kontrovers wie produktiv. Die Meinungsbilder genauso so bunt, wie die farbigen Karten und Moderationswolken, auf denen die Anregungen aus der Bürgerschaft gesammelt werden.

Ein Debattenstrang zielte dabei auf die Möglichkeit paralleler Aktionsformen ab, in denen sich am Ende das gesamte Spektrum eines friedlichen Protestes wiederfinden könne, Elementen des zivilen Ungehorsams inklusive. Doch eins schien dann doch recht schnell fix zu sein, nämlich das an der MENSCHENKETTE festgehalten werden solle, um an den Erfolg aus dem März 2013 auch im kommenden Jahr anknüpfen zu können. Während einige dies als Zwischenschritt begreifen, um in nicht zu ferner Zukunft Naziaufmärsche gänzlich verhindern zu können, mahnen andere an, dass der Protestkultur in einer Stadt Zeit gegeben werden müsse, bevor sie sich breitenwirksam entwickele.

Neben solchen eher strategischen Punkten, stehen aber auch ganz praktische Erwägungen im Mittelpunkt. So stößt ein Vorschlag auf große Resonanz, die MENSCHENKETTE um weitere historisch-neuralgische Punkte in Dessau-Roßlau zu erweitern, um die Rechtsextremisten damit mit dem verbrecherischen Teil der deutschen Geschichte zu konfrontieren, auf die sie sich positiv beziehen. Der Wert dieser pädagogischen Intervention war dabei im Plenum durchaus umstritten. Bejahendes Kopfnicken lösten derweil  die Hausaufgaben aus, die in einigen Wortmeldungen dem Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE  ins Buch geschrieben werden. Ein paar davon: ausreichend Trillerpfeifen besorgen, mehr Student_innen einbinden und die Wirtschaftsunternehmen der Stadt noch gezielter ansprechen.

„Die erste Raketenstufe ist gezündet“, sagt GELEBTE DEMOKRATIE-Moderator Uwe Schmitter schließlich und meint damit, dass all diese Vorschläge nicht vergessen werden. Spätestens am 26. November 2013 kommen sie wieder auf den Tisch. Um im Bild der Raumfahrt zu bleiben, wird dann in der Aula des Dessauer Liborius-Gymnasiums die zweite Stufe gezündet, wenn im Rahmen der Netzwerkkonferenz MENSCHENKETTE UND MEHR – WIE WEITER MIT DER PROTESTKULTUR IN DESSAU-ROSSLAU? (mehr dazu hier…) auf einem Podium und in Workshops weitergeplant wird. Seine geostationäre Umlaufbahn wird der Protest-Satellit dann in jedem Fall am 08. März 2014 erreichen.  Ob mit diesem dann 3000 Menschen verbunden sind, dass jedenfalls ist der Anspruch und die Vision des Netzwerks GELEBTE DEMOKRATIE, wird sich zeigen.

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